Hartwig Kantorowicz Actien-Gesellschaft -
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Im Bereich des deutschen Stellungssystems im südlichen Frontbogen von St. Mihiel fand sich kürzlich dieses zunächst unscheinbare, dann jedoch nach weitergehenden Recherchen interessante Relikt aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Eine Flasche der Posener Likör-Manufaktur Hartwig Kantorowicz AG (im Bild rechts).
Hartwig Kantorowicz (* 1806; † 1871) war ein Unternehmer in der ehemals polnischen, später preußischen Provinz Posen und Mitglied der jüdischen Gemeinde. Die Provinz Posen ging aus der historischen Region Großpolen hervor und wurde auf dem Wiener Kongress Preußen zugeschlagen. Posen war der einzige Verwaltungsbereich im Staat Preußen mit mehrheitlich nicht-deutscher Bevölkerung.
1823 gründete Hartwig Kantorowicz im Alter von nur 17 Jahren in der Stadt Posen (polnisch: Poznan) eine Brennerei und Likörfabrik, die auf Grund der hohen Qualität der Produkte schnell überregionale Bekanntheit erlangte. Nach und nach kamen weitere Firmensitze und Filialen hinzu, so auch in Hamburg und Berlin.
Bereits im Jahr 1832 wurde Hartwig Kantorowicz durch den damaligen Oberpräsidenten der Provinz Posen, Eduard von Flottwell, die Naturalisation gewährt. Von Flottwell hatte die polnische Nationalbewegung bekämpft, um, wie er sich ausdrückte, "die polnische Provinz für Preußen zu gewinnen". Er protegierte das arme Bürgertum und förderte vor Allem die Emanzipation der polnischen Juden.
1833 erließ von Flottwell mit der "Vorläufige(n) Verordnung wegen des Judenwesens im Großherzogtum Posen", eine Vorschrift, die sich an die in Preußen bereits seit einigen Jahren gültigen Regularien für die Integration der jüdischen Bevölkerung anlehnte. Mit diesen nach damaligen und auch heutigen integrativen Maßstäben durchaus liberalen und modernen Regelungen wurde es vielen jüdischen Familien möglich, sich selbstbestimmt und erfolgreich am gesellschaftlichen und geschäftlichen Leben zu beteiligen. |
Zudem, dort ist einer der Anknüpfungspunkte zum Thema Erster Weltkrieg, wurde es durch die Flottwellsche Verordnung polnischen Juden gestattet, als Freiwillige in den preußischen Militärdienst einzutreten. Dies taten viele junge Männer mit großem Enthusiasmus, denn sie waren dem preußischen Staat dankbar für die erhaltenen Freiheiten und Möglichkeiten. Sie wollten durch die militärische Laufbahn zudem sich und ihren Familien weitergehende Gleichstellung und Reputation verschaffen. Letzteres gelang in der politischen Entwicklung Deutschlands bekanntlich nur übergangsweise.
Im Jahr 1885 wurde als viertes Kind eines der Söhne des Firmengründers der spätere Historiker und Mediaevist Ernst Hartwig Kantorowicz geboren. Mit ihm findet sich der zweite Anknüpfungspunkt für die Einbindung des Fundstücks in das Thema Erster Weltkrieg.
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Aus einer kaufmännischen Ausbildung in Hamburg heraus meldete sich Ernst Hartwig Kantorowicz (* 3. Mai 1895 in Posen; † 9. September 1963 in Princeton, USA) unmittelbar zu Kriegsbeginn als Freiwilliger zum Militärdienst. Er wurde Vizewachtmeister im 1. Posenschen Feldartillerie-Regiment Nr. 20, einer hochangesehenen, traditionsreichen preußischen Einheit. Mit seinem Regiment war Kantorowicz ab September 1914 im Frontbogen von St. Mihiel eingesetzt. Bis in den Herbst des Jahres 1916 nahm er an den Gefechten im Bereich der Grande Tranchée de Calonne, um das Fort de Troyon, auf der Combres-Höhe und in der Woëvre-Ebene teil. Hiernach stand das Regiment auch in den intensiven Kämpfen bei Verdun. Kantorowicz war für etwa zwei Jahre nahe desjenigen Frontabschnitts eingesetzt, wo andere deutsche Soldaten ebenfalls zu Kriegszeiten eine Flasche Likör aus dem Repertoire des Familien-Unternehmens genossen hatten.
Möglicher Weise seiner gastronomischen Familientradition verpflichtet, führte Vizewachtmeister Kantorowicz während des Einsatzes im St. Mihiel-Frontbogen von September 1914 bis Oktober 1916 die Oberaufsicht über die durch sein Regiment eröffnete Gaststätte "Krug zum Grünen Kranz" in Billy-sous-les-Côtes. Das soldatische Leben in dem kleinen Ort am Fuße der Côtes de Lorraine, nur wenige Kilometer hinter den vorderen Linien, wird in der Regimentsgeschichte des 1. Posenschen Feldartillerie-Regiments Nr. 20 lesenswert beschrieben.
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Kantorowicz überlebte den Krieg und wurde bekannt unter Anderem durch sein umfassendes literarisches Werk über Friedrich II sowie das in den 1930er Jahren entstandene und 1963 neu verlegte Buch "Götter in Uniform". Seine politische Einstellung war, wie die vieler Juden im ehemals polnischen Teil des deutschen Reichs, streng deutsch-national und antizionistisch. Im Januar 1919 nahm Kantorowicz an der Niederschlagung des Berliner Spartacus-Aufstandes sowie im März desselben Jahres an der Bekämpfung der Münchener Räterepublik teil.
Er studierte in Berlin, München und Heidelberg Nationalökonomie und Alte Geschichte. In Heidelberg teilte er den Hörsaal mit Personen wie bspw. Joseph Goebbels. Dort erhielt er auch Zugang zu dem Kreis um den Schriftsteller und Lyriker Stefan George. Ab 1930 hatte Kantorowicz eine Professur für mittelalterliche und neuzeitliche Geschichte an der Universität Frankfurt a. M. inne. Wegen seiner Kriegsteilnahme blieb er von den Nationalsozialisten zunächst verschont. 1934 kritisierte er die neuen Machthaber und bat um seine Beurlaubung "solange die Benachteiligung der national eingestellten Juden dauere". Kantorowicz wurde postwendend aus dem Öffentlichen Dienst entfernt. 1938 emigrierte er in die USA und lehrte an den Universitäten Berkeley und Princeton. Er starb im Jahr 1963 in Princeton.
Die Flaschen der Firma Kantorowicz wurden in renommierten schlesischen, sächsischen und tschechischen Glasfabriken hergestellt und waren zumeist qualitativ hochwertig gestaltet. Sie trugen das auch auf der Flasche aus dem Frontbogen von St. Mihiel zu findende Konterfei in Form eines Hexagramms und eines Lachses in dessen Mitte als Symbol der Destillateure und Likör-Hersteller sowie die Initialen des Firmengründers H und K. Die gefundene Flasche enthielt einen der vielen Liköre des Unternehmens mit holländischem Bezug.
Da die Unternehmensstruktur und die Produktion der Spirituosen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs grundlegend verändert wurde, sind entsprechende Flaschen heute recht selten. Hartwig Kantorowicz musste sein Unternehmen Anfang der 1920er Jahre an den neu gegründeten polnischen Staat für 20 Millionen Reichsmark veräußern und siedelte nach Berlin über, wo er unter Regie des Schultheiss-Konzerns ein neues Unternehmen gründete. Im Jüdischen Museum Berlin sind einige teils sehr filigran gearbeitete Flaschen-Exemplare aus der ursprünglichen Unternehmenszeit in Posen zu bewundern.
Das hiesige, zunächst unscheinbare Fundstück bietet bei genauerer Befassung mit seiner Historie einen intensiven und vielschichtigen Einblick in die jüngere deutsche und europäische Geschichte.
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